Von den Ursprüngen des Vogelschießens

Der Schuß auf den Vogel – sowohl den lebendigen als auch den auf der Stange – geht auf alte kultische Bräuche zurück. Die historische Forschung beschäftigt sich seit längerem mit diesem in verschiedenen alten Kulturkreisen auftretenden Phänomen.

Offensichtlich galt dem Vogel, weil er dem Himmel näher war und fliegen konnte, seit altersher eine göttliche Verehrung. Ihn zu bezwingen entsprach wohl einem seit Urzeiten bestehenden religiösen Opfergedanken in der Hoffnung, dadurch der unbekannten Gottheit näher zu kommen, eines winzigen Teils von ihr teilhaftig zu werden. In neuester Zeit hat sich Hans-Thorald Michaelis in verschiedenen Veröffentlichungen mit diesem Thema beschäftigt und den Blickkreis erweitert.

Beeindruckend sind dabei seine Schilderungen alter ritueller Gewohnheiten, wie sie in einigen abgelegenen Teilen Europas bis in die Neuzeit üblich waren: man zog an einem bestimmten Tag des Jahres, meist zum Jahresschluß, gemeinsam aus, einen Zaunkönig einzufangen, tötete ihn und trug ihn dann als Beute, hoch oben an einer Stange befestigt, von Haus zu Haus. Nach dieser Prozession fand man sich zum Festgelage (altnordisch = gildia) zusammen, wobei derjenige, der den Vogel als erster aufgespürt und getötet hatte, als „Schützenkönig“ galt. Durch die Verteilung von Federn während des Umzugs erhielt jeder seinen Anteil am Opfer.


Die Deutung solcher Bräuche, die Auswertung antiker Belege, die Ergebnisse archäologischer Ausgrabungen von Kultsymbolen (Vogel auf der Stange) sowie die Zusammenfassung der Theorien vieler Wissenschaftler führen zu der kaum zu widerlegenden Feststellung: der Vogelkult weist eine bunte Geschichte auf mit vielen Abwandlungen. Wetterhahn, Friedenstaube, Wappenadler gehören in diese Betrachtung, auch die Vorstellung, dass die Seele eines Verstorbenen als Vogel zum Himmel aufsteigt.

Das Schießen auf den Vogel hat bis zur Gegenwart einen langen Entwicklungsweg zurückgelegt, im Rückblick bleiben mangels Quellen manche Strecken schwer erkennbar. Michaelis erklärte fehlende Nachrichten mit dem Verbot der Gilden durch die Obrigkeit im Zeitraum zwischen 800 und 1250. Dem heutigen Vogelschützen bleibt die Erkenntnis, dass er unbewußt uralte Handlungen beim Schuß auf den Vogel auf der Stange nachvollzieht. Mit Pfeil und Bogen schießen noch heute unsere flämischen Schützenbruder auf den mit Federn geschmückten Vogel.

Das Armbrustschießen hat sich bei uns erhalten. Beim Schießen mit dem Gewehr ist die Entwicklung der Waffe vom ersten „Feuerrohr“ bis zur heutigen Vogelbüchse zu erkennen. Der gegen Ende der Kreuzzüge (von 1096 bis 1270) aufgekommene Schießwaffengebrauch (Bogen und Armbrust) ließ den Schußwaffen auf dem Kontinent eine neue Bedeutung zukommen. Die lang anhaltenden Kämpfe zwischen Engländern und Franzosen Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts in Flandern regten das Bürgertum, das in den Städten seiner Zeit eine große Selbständigkeit erlangt hatte, dazu an, sich im Bogen- und Armbrustschießen zu üben und sich hierzu der überlieferten Gilden zu bedienen.
So erklären sich auch die ältesten Gründungsdaten von Schützengesellschaften aus Nordfrankreich, Flandern und den Niederlanden, das Älteste einer St. Sebastianus-Handbogengilde in Gent von 1322.
Auch bei den in Deutschland im 13. und 14. Jahrhundert nachweisbaren Schützenvereinigungen ist wohl in den meisten Fällen anzunehmen, dass neben der laufend betriebenen Schießausbildung das altüberlieferte Vogelschießen einer der Höhepunkte jährlichen Vergnügens war. Aus unserer Nachbarschaft liegen aus Oldenburg und Kiel die ältesten Erwähnungen des Schießens aus den Jahren 1408 und 1412 vor.
Überall wurde nun die Bezeichnung Papagoienschießen üblich (auch Papagoyen, Gojen, Gogen; von Goi o. ä. = Vogel). Man schoß auf einen dem Papagei nachgeahmten Schützenvogel. Diesen Vogel scheinen die Kreuzritter im Orient kennengelernt und wegen seiner Farbenpracht geschätzt zu haben. Auch der silberne oder goldene Königsvogel, den der jeweilige König trug, hatte diesen Namen. Er begegnet uns in der ältesten in Neustadt erhaltenen Notiz von 1633, in der es heißt: „Der letzte König, Michael Schütte, soll den Papagoien bis zum nächsten Fastelabend wieder beschaffen.“